Das Grab 



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Er saß im Ledersessel und starrte auf die Wand vor sich. Der Sessel war hart und unbequem und bei Weitem nicht so ausladend und pompös wie der auf der anderen Seite des riesigen Schreibtisches. Er saß auf dem Besucherstuhl, der etwas tiefer gestellt war,wohl um die Machtverhältnisse noch deutlicher spürbar zu machen. Als ob es dessen bedurft hätte. Er fuhr fort, die Wand zu fixieren, genauer gesagt, die Tür des Tresors, der in die Wand eingemauert war. Er hatte das Klicken gehört, als die Tresortür eilig zugeworfen und das Nummernschloss einmal gedreht worden war. Aber es hatte nur einmal geklickt, der Drehknopf war kein zweites Mal betätigt worden. Das hieß, wenn man den Drehknopf in die Ausgangsstellung brachte und am Türgriff zog ...

Nein. Undenkbar. Niemand durfte an den Tresor. Er begann zu schwitzen und rutschte auf dem Sessel ganz nach vorn. Nicht auszudenken, wenn er erwischt würde. Er sah sich hastig nach allen Seiten um. Nein. Niemand war im Raum, niemand beobachtete ihn. Er entspannte seine Finger, die er unwillkürlich zu Fäusten verkrampft hatte, und wischte sie an der Hose trocken. Er fühlte einen Knoten im Hals bei der Vorstellung, wie er am geöffneten Tresor stand und die Tür ging auf. – Er würde es nicht erklären können, er würde dastehen wie ein gemeiner Dieb. Und doch...

Wie in Trance erhob er sich und ging um den Schreibtisch herum. Als er vor dem Wandsafe stand, hob er langsam die Hand. Sie zitterte, als er den Drehknopf anfasste. Nichts passierte.Es tat keinen Donnerschlag und die Himmel stürzten nicht ein. Vorsichtig öffnete er den Tresor. Der Innenraum war kleiner als er es sich vorgestellt hatte. Es gab nur zwei Fächer, die durch eine Stahlplatte getrennt wurden. Im oberen Fach lagen Geschäftspapiere, auf denen einige Bündel Bargeld gestapelt waren. Im unteren Teil des Safes sah er eine Pistole mit dem Griff nach vorne und eine Schachtel Munition daneben. Ganz hinten lag ein brauner Umschlag. Er griff hinein und zog ihn heraus. Der Umschlag war nicht beschriftet. Er besah sich die Rückseite. Auch nichts. Vorsichtig tippte er an die Faltklappe. Der Umschlag war nicht zugeklebt. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber irgendwie warer enttäuscht. Er zog zwei Blätter heraus und sah noch einmal nach, ob sich nicht doch noch etwas vor seinen Blicken verbarg. Aber da war nichts mehr.Verwirrt blickte er auf die Seiten und bemerkte, dass sie von Hand beschrieben waren. Die Schrift kam ihm bekannt vor.

Neugierig begann er zu lesen.Seine Lippen bewegten sich lautlos, als seine Augen über die Zeilen huschten.Er verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum, und als er zu Ende gelesen hatte,hatte seine Wirklichkeit aufgehört zu existieren. Der Donnerschlag in seinem Inneren war lautlos erfolgt, und die Himmel waren eingestürzt. Er steckte die Papiere in den Umschlag zurück und legte diesen wieder in das untere Tresorfach nach hinten. Als der alte Zustand wieder hergestellt war, drehte er sich um und verließ das Zimmer.


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Es begann vollkommen unspektakulär. Kommandant Starkl betrat Kammerlanders Büro und legte einen Notizzettel auf den Schreibtisch. „Arbeit, Kammerlander. Ich hatte gerade einen Anruf vom Kunsthaus in Köflach. Da läuft eine Ausstellung über das Mittelalter. Sie haben davon gehört? Na, jedenfalls ist dort eingebrochen worden. Es sind ein paar Masken verschwunden, soweit ich das verstanden habe. Alles weitere erfahren Sie dort. Setzen Sie sich mit dem Kurator der Ausstellung in Verbindung, einem gewissen Dr. Schneeberger. Ich habe den Namen hier notiert.“ Er wies mit dem Kinn auf den Zettel.

Kammerlander nickte. Er hatte natürlich von der Ausstellung gehört, denn die Lokalblätter, der Bezirkssender und riesige Plakate hatten das Ereignis schon vor Wochen angekündigt.Er selbst hatte vorgehabt mit seiner Frau Inge die Ausstellung am Wochenende zu besuchen. Er holte seine Lammfelljacke vom Garderobenhaken und steckte den Zettel ein. Draußen war es eisig kalt. Nun ja, Ende Januar konnte man wohl kaum milde Temperaturen erwarten. Er musste einen Eisfilm von der Windschutzscheibe kratzen. Die Morgensonne versteckte sich noch hinter dem Polizeigebäude, ihre schüchternen Strahlen hatten sein Auto noch nicht erreicht. Äußerst widerwillig begann der kalte Motor zu stottern, und Kammerlander wartete ein wenig, bevor er die Heizung und das Gebläse hochdrehte. Der Volvo war schon ein alter Herr, den man nicht überfordern durfte. Kammerlander hatte sich noch immer kein neues Auto gekauft, obwohl er schon seit Jahren mit der Idee liebäugelte.Als von der Heizung endlich etwas zu merken war, bog er bereits auf den Parkplatz des Kunsthauses ein. ‚Folter und Gerichtsbarkeit des Mittelalters’war in riesigen Buchstaben über dem Eingang zu lesen.

Also, packen wir’s an,dachte er. Einbruch, Diebstahl. Eine Routineangelegenheit. Dann schauen wir doch einmal, was sich hier zu stehlen lohnt. Dr. Schneeberger wartete schon auf ihn.Er begrüßte Kammerlander mit einem festen Händedruck, und dieser war überrascht wie jung der Kurator war. Er hatte eher einen ältlichen zerstreuten Professorerwartet. Dr. Schneeberger ging mit ihm durch die Ausstellung und führte ihn in ein mittelgroßes Zimmer. „Dieser Raum ist den Schandmasken vorbehalten.“Sie blieben vor einer Wand stehen, die nicht fertig dekoriert wirkte. Merkwürdige Masken aus Eisenblech hingen dort, dazwischen klafften drei Lücken. Die dargestellten Gesichter waren teils zu komischen, teils zu ekelhaften Grimassen verzerrt. 
„Sie wissen, was Schandmasken sind?“, fragte Dr. Schneeberger und gab auch gleich die Antwort. „Sie wurden im Mittelalter für sogenannte‚Ehrenstrafen’ verwendet. Wenn beispielsweise einer Frau Unzucht vorgeworfen wurde, dann musste sie so eine Maske eine Zeit lang tragen. Oder wenn jemand log oder betrog. Die Masken wurden für jedes Vergehen entsprechend gestaltet,sodass die Leute sofort wussten, was man dem armen Teufel zur Last legte. Oft wurde er auf dem Marktplatz an den Pranger gestellt, und ihm wurde die entsprechende Maske aufgesetzt. Das war natürlich eine Volksbelustigung ersten Ranges, und der Pöbel durfte den armen Kerl verspotten, beschimpfen, bespucken und mit Unrat bewerfen.“

„Die guten alten Zeiten.“ Kammerlander grinste. „Das sollte man sich vielleicht als erzieherische Maßnahme überlegen.“ Er zeigte auf die leeren Flächen.„Hier hingen wohl die gestohlenen Masken?“

Dr. Schneeberger nickte.„Alle drei waren Schweinemasken. Wenn ein Mann sich in jenen Tagen wie ein Schwein verhielt, dann wurde ihm eine Maske in Form eines Schweinskopfs aufgesetzt.“ „Wann haben Sie den Verlust der Stücke bemerkt?“ „Heute morgen. Als ich gestern Abend meinen Kontrollgang gemacht habe, waren die Maskennoch an ihrem Platz. Das war kurz nach achtzehn Uhr. Dann habe ich abgeschlossen.“ „War der Eingang heute früh versperrt?“ „Die Eingänge.Ja. Alles wie es sein soll. Es gibt zwei Eingänge, müssen Sie wissen. Rechts und links vom Stiegenaufgang. Die Ausstellungsräume führen die Besucher im Kreis herum, und sie kommen an ihrem Ausgangspunkt wieder an. Allerdings ...“Er furchte die Stirn. „Da gibt es noch einen Notausgang. Eine kleine Tür hinter einer Schautafel.“ Er ging voran in den nächsten Raum und zog eine Schautafel von der Wand weg. Es war sofort zu sehen, dass das Schloss der Türbeschädigt war. „Das wäre also geklärt“, murmelte Kammerlander und beugte sich hinunter. Ein Profi war das nicht gewesen. Wahrscheinlich mit einem normalen Schraubenschlüssel aufgebrochen. „Sagen Sie, sind die Masken eigentlich sehr wertvoll?“ Dr. Schneeberger zog hörbar die Luft ein.„Selbstverständlich sind sie das. Sie sind von unschätzbarem kulturhistorischen Wert –“

„Ja, natürlich. Was ich meine ist Folgendes: Was kann der Dieb mit den Masken herausschlagen? Wie viel Geld kann er bei einem Verkauf bekommen? Und gibt es überhaupt einen Markt dafür?“

„Hm.“ Der Kurator rieb sich nachdenklich das Kinn. „Wenn man an die richtigen Leute verkauft ...betuchte Sammler zum Beispiel ... Ich würde sagen, fünfzig- bis siebzigtausend Euro sind da schon drin. Vielleicht auch noch mehr.“

„Das hätte ich nicht gedacht.“ Kammerlander ging zurück zum Schandmaskenraum und betrachtete die Exponate nun mit anderen Augen. „Sie haben doch sicher Fotografien von den gestohlenen Masken?“ „Selbstverständlich. Kommen Sie mit in mein Büro. Ich suche sie Ihnen heraus.“

Als Kammerlander wieder in seinem Wagen saß, holte er die Fotos aus dem Umschlag und betrachtete sie genau. Der hohe Erlös der Beute war natürlich ein Motiv. Trotzdem störte ihn etwas. Wenn der Dieb so viel Geld mit dem Verkauf der Masken bekommen konnte,wieso nahm er dann nicht alle mit? Selbst wenn man das Gewicht berücksichtigte,hätten es bestimmt ein paar mehr sein können. Wieso also nur diese drei? War er gestört worden? Oder hatte er es ganz gezielt auf diese Schweinemasken abgesehen gehabt? Er startete den Wagen und fuhr vom Parkplatz. Als Erstes musste er die Fotos in die Fahndung geben und die Abteilung für Kunstdiebstähle und Hehlerei informieren. Wenn es ein Auftragsdiebstahl war, saß der Auftraggeber bestimmt nicht im Bezirk Voitsberg. Das war wohl eher etwas für Europol. Die Hehlerszene musste unter die Lupe genommen werden. Und wenn der Auftraggeber die Masken bereits hatte und sie glückselig im privaten Kellerraum betrachtete, sahen sie sowieso alt aus.

Wie auch immer. Ein Routinefall. Etwas sonderbar vielleicht, aber mehr auch nicht.

Kammerlander ahnte nicht, wiesehr er seine Meinung revidieren würde.

 

Der kleine Hase saß zitternd im hohen Gras und rührte sich nicht. Er wusste nicht, was ihn draußen erwartete, im freien Feld und im Wald. Es war noch finstere Nacht, und er hatte große Angst. Eine Eule auf einem Baum in der Nähe sah auf ihn herab und fragte: „Was machst du dort unten ganz allein?“

„Ich bin auf der Suche“,sagte der Hase. Die Eule nickte. „Dann musst du jetzt aufbrechen. Bald geht die Sonne auf.“ „Ich weiß aber den Weg nicht“, sagte der Hase.

„Folge deinem Herzen und du wirst ankommen.“ Die Eule schüttelte die Flügel und erhob sich in die Lüfte.„Es ist alles nicht wirklich!“, rief sie zum Abschied. Der Hase sammelte all seinen Mut und lief los. 




Es war ein Wintertag, wie er schöner nicht sein könnte. Kein Wolkenschleier trübte das makellose Blau des Himmels. Die Sonne hatte nicht die Kraft, Wärme zu spenden, doch ihre Strahlen zogen scharfe Grenzen zwischen Licht und Schatten,modellierten Erhebungen und Vertiefungen der Landschaft mit einer Intensität,die kein Verwischen, keine Unklarheit zuließ. Das intensive Licht ließ die Hügel näher heranrücken, verwischte Entfernungen, täuschte Nähe vor. DieTerenbachalm im Norden und der breite Rücken der Hirschegger Alm im Westen überstrahlten die Landschaft mit einem blendenden Weiß. 
Der einsame Spaziergänger nahm nichts von den Schönheiten dieses Wintertages wahr. Mit gesenktem Kopf, die Hände in die Manteltaschen vergraben, ging er mit ausladenden Schritten den Feldweg entlang. Die Abdrücke seiner Stiefel folgten ihm lautlos. 
Josef Rumbach war denkbar schlechter Laune. Nichts lief so, wie er es sich vorgestellt hatte. Ja, es schien, als würden sich all seine Träume in Luft auflösen. 
Er dachte an den vergangenen Abend. Da hatte es ein großes Fest gegeben im Hause Rumbach. Der Chef des Familienunternehmens Ulrich Rumbach war siebzig geworden und hatte zu einem Festessen geladen. Alle hatten der Einladung Folge geleistet. Ein Fernbleiben wäre schlicht undenkbar gewesen, wenn der Patron zu feiern wünschte. Der Bankdirektor mit Gattin waren erschienen, einige langjährige Geschäftsfreunde, der Steuerberater, der Hausarzt und dessen Frau, der schmierige Notar und der Rechtsanwalt. Und natürlich die Familie. Die waren die Schlimmsten. Sein versoffener Bruder Paul, Onkel Wendelin mit seiner eigenwilligen Tochter – eine Künstlerin! Ha! – und deren Sohn, der in den Keller ging, wenn er einmal lachen musste. Und natürlich Manfred, der Liebling des Alten. Selbst seine Mutter, seine Frau und die Zwillinge hatten dem Jubilar Honig ums Maul geschmiert. Wie sie um den Alten herumgewuselt waren und sich bei ihm eingeschleimt hatten. Zum Kotzen! ‚Alles Liebe wünschen wir dir und bleib uns noch recht lang erhalten.’ – Von wegen! Die konnten es doch einer wieder andere kaum erwarten, dass der Alte endlich ins Gras biss. 
Wütend stapfte er durch den Schnee. Die Vormittagssonne überzog die Schneedecke mit einem Teppich aus Glitzerpünktchen. Geblendet kniff Sepp Rumbach die Augen zusammen. Er dachte an das Gespräch mit seinem Onkel. Er hatte sich viel davon versprochen. Als die Gäste fort waren und Ulrich Rumbach sich in seine Gemächer zurückgezogen hatte, war er in den ersten Stock gegangen und hatte an die Tür seines Onkels geklopft. Es war ihm als der ideale Zeitpunkt erschienen. Er musste mit ihm über die Nachfolge im Unternehmen sprechen. Ulrich Rumbach war schließlich siebzig geworden. Er konnte doch nicht auf immer und ewig die Leitung in seinen Händen behalten. Er hatte seinem Onkel mit wohl gesetzten Worten vorgeschlagen, ihm Schritt für Schritt die Firmenleitung zu übergeben. In Anbetracht des fortgeschrittenen Alters des Chefs nur vernünftig. 
Der Alte hatte keine Miene verzogen und ihn ruhig angesehen. 
„Und wieso glaubst du, dass ich dir die Leitung übergeben soll?“, hatte er gefragt. 
Nun, er war schließlich der älteste Nachkomme und riss sich den Arsch auf für das Unternehmen. 
Ulrich Rumbach hatte geringschätzig den Mund verzogen. 
„Für deine Arbeit wirst du ausreichend entlohnt, und ansonsten wüsste ichnicht, was dich für die Leitung unseres Unternehmens qualifiziert.“ 
„Also, hör mal ...“ 
„Dir reicht wohl das Geld nicht? Würde mich nicht wundern bei dem Doppelleben, das du führst. Die Dame stellt wohl hohe Ansprüche?“ 
Er war völlig überrumpelt gewesen. Er hatte versucht, seine Wut zu zügeln.Woher hatte der Kerl das schon wieder erfahren? Er fühlte, wie sich sein Gesicht mit Röte überzog, und das machte ihn noch wütender. 
„Denkst du etwa, Paul könnte es besser machen?“ 
„Natürlich nicht. Dein Bruder ist ein verweichlichter Trunkenbold. Ihr beide seid wahrlich nicht das, was mir als Nachfolger vorschwebt. Auf moralischer Ebene schon gar nicht, wie du wohl weißt. Seid froh, dass euer wahrer Charakter nicht ans Tageslicht gekommen ist.“ 
Eine heiße Welle war in ihm hochgeschossen. Dieser gemeine Hund. Würde er nie damit aufhören? Es war nun schon so lange her, dieses ... Unglück. Ja, das war es. Ein Unglück. Und ihr liebender Onkel war eifrig darauf bedacht, es sie ja nie vergessen zu lassen. Sie zu erpressen und ihnen seinen Willen aufzuzwingen. 
Er hatte sich mühsam beherrscht und tief durchgeatmet. 
„Und an wen hast du dann gedacht?“ 
Er sah, wie Ulrich sich verstohlen ans Herz fasste. Stand es etwa schlecht um ihn? Er erinnerte sich, dass der Hausarzt in den letzten Wochen häufiger als sonst bei seinem Onkel gewesen war. 
„Tja. Mit meiner Familie ist nicht viel Staat zu machen. Du bist  übrigens nicht der Erste, der mir die Leitung abschwatzen will. Ich bin eigentlich überrascht,dass du erst jetzt gekommen bist.“ 
Wie Ulrich es genossen hatte, ihn zu demütigen. Er hatte an sich halten müssen,um dem Alten nicht an die Gurgel zu springen und ihn mit bloßen Händen zu erwürgen.Eine wohlige Gänsehaut hatte ihn bei der Vorstellung überzogen. 
„Wer also?“ 
„Ich habe mich entschlossen, Manfred als meinen Nachfolger einzusetzen. Mit dem Notar habe ich bereits gesprochen. Der Termin ist für Dienstag kommender Woche angesetzt.“ 
Er hatte seinen Onkel nur anstarren können. Das konnte einfach nicht sein. Warder Alte jetzt endgültig verrückt geworden? 
„Aber ... er gehört doch gar nicht zur Familie!“ 
„Meinst du? Das ist Ansichtssache denke ich. Er steht mir sehr nahe, näher als ihr alle. Und wegen der rechtlichen Seite: Eine Adoption ist rasch durchgeführt.Findest du nicht auch, dass wir dem Jungen etwas schuldig sind? – Und noch was, Sepp: Wenn du jetzt hinuntergehst, sage gleich allen Bescheid. Dann muss ich die Sache nicht jedem Einzeln erklären.“ 
Und wirklich war die Familie im Wohnzimmer vollzählig anwesend gewesen, und alle hatten ihn gespannt angesehen. Sie hatten sich natürlich denken können,was er oben bei Onkel Ulrich gewollt hatte. 
Er sah noch ihre fassungslosen Gesichter vor sich und grinste schadenfroh. Ja,meine Lieben, da habt ihr wohl auch anders kalkuliert, was? Er erinnerte sich an das eisige Schweigen, das sich nach seiner Eröffnung ausgebreitet hatte, und an die giftigen Blicke, die sich auf Manfred konzentriert hatten. Der war wortlos aufgestanden und ohne jemanden anzusehen aus dem Raum gegangen. 
Das war nun der unerfreuliche Stand der Dinge. Aber diese himmelschreiende Ungerechtigkeit würde er nicht hinnehmen. Er war der einzig logische Nachfolger in der Hierarchie, da konnte der Alte sagen, was er wollte. Außerdem brauchte er Geld. Das stand ihm zu. Jahrelang hatte er sich geduckt und den Wünschen des Onkels gefügt. Aber jetzt war Schluss. Er musste an das Familienvermögen herankommen. 
Heute war Sonntag, der neunte Februar. In zwei Tagen war Deadline. Dann würde Ulrich zum Notar gehen. Nicht viel Spielraum, um etwas zu unternehmen.