Schattenstumm

 

2008

Sommer

Ich sitze auf der Terrasse in der Nachmittagssonne und lese die Zeitung.

Das Kleingedruckte interessiert mich nicht. Es ist auch so anstrengend mit den winzigen Buchstaben. Ich lese die Überschriften und sehe mir die Bilder an. Da kann ich mir schon zusammenreimen, was in den Artikeln steht. Meistens ist es die Mühe nicht wert, sich damit auseinanderzusetzen. Man wird ohnehin nur angelogen und verschaukelt.

Lesen.

Ich habe gern gelesen. Früher. War fast süchtig danach. Ganz verschiedene Dinge hab ich gelesen, Romane ... Biographien und ... Sachen aus der Vergangenheit ... Vieles eben. Eine Wand unseres Wohnzimmers besteht nur aus Bücherregalen. Sieht sehr schön aus, finde ich. Hilde hat schon ein paar Mal gemeint, ich solle doch wieder einmal ein Buch lesen. Aber ich habe keine Lust dazu. Ich kenne ja schon alle, hab ich gesagt.

Ich bin mit der Zeitung fertig. Ich schiele um die Ecke, Hilde jätet noch im Garten. Vielleicht hat sie recht. Ich habe ja Zeit, ich könnte wirklich wieder ...

Ich gehe ins Wohnzimmer und stelle mich vor die Bücherwand. Stumm stehen die Bände im Regal. Sauber aufgereiht, wie mit dem Lineal gezogen. Da ist Hilde ganz genau. Welches ...? Ich strecke die Hand aus, doch ich weiß nicht ... So viele Buchrücken, dicke, dünne, manche mit Goldschnitt ... ganz bunt ... Es flimmert mir vor den Augen. Ich lasse die Hand wieder sinken. Ich werde kein Buch lesen. Wieso soll ich? Ist mir zu anstrengend. Es kann mich keiner dazu zwingen, ich kann tun und lassen, was ich will.

Außerdem hab ich keine Brille dabei.

Ist die Post schon gekommen? Ich werde mal nachsehen. Der kleine Schlüssel hängt am Brett. Ich nehme ihn und drehe mich um. Hilde steht hinter mir. Sie schaut auf den Schlüssel in meiner Hand und sagt, dass ich vor einer halben Stunde schon am Briefkasten war. Das weiß ich, bin ja nicht blöd. Wie hätte ich sonst die Zeitung lesen sollen? Ich will bloß schauen, ob ein Austräger Werbematerial eingeworfen hat. Aber ich kann es auch bleiben lassen. Kein Problem.

Ich habe Hunger. Haben wir schon gegessen? Aber ich frage nicht, denn dann schaut mich Hilde vielleicht wieder so komisch an. Ich vergesse so viel, das merke ich selbst. Und es wird schlimmer.

Hilde hat sich schon ein paar Mal beschwert, dass ich kaum mehr mit ihr rede. Aber ich bin verunsichert. Ich möchte so viel fragen, aber ich weiß nicht, ob das klug ist. Ich habe gemerkt, dass von mir erwartet wird, Sachen bereits zu wissen, nach denen ich frage. Und ich habe den gereizten Ton bemerkt: “Das habe ich dir doch vor ein paar Minuten erst gesagt!“

Also besser den Mund halten. Da ist man auf der sicheren Seite.

Hilde geht in die Küche und macht eine Suppe warm. Wunderbar. Mein Bauch hat sich also nicht getäuscht. Nach dem Essen trage ich zwei Kannen voll Wasser in den Garten, damit Hilde die Pflanzen wässern kann. Der Garten ist ihr Ein und Alles.

Ich versuche mich auch nützlich zu machen. Wenn ich das Geschirr wegräume, wird sie sich bestimmt freuen. Sie ist am Abend immer so müde. Danach hole ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setze mich ins Wohnzimmer. Jetzt müssten die Abendnachrichten anfangen.

Ich lehne mich in meinen Fernsehsessel zurück und schließe die Augen.

Plötzlich höre ich Hilde schimpfen.

„Was hast du denn jetzt wieder getrieben? Stellt das benutzte Geschirr einfach wieder in die Schränke! Dafür haben wir doch eine Spülmaschine!“

Am besten gar nicht hinhören.

Frauen haben halt immer was zu meckern.

 

Als ich aus dem Bad komme, höre ich Hilde telefonieren. Ihre Stimme ist gedämpft, so, als soll ich nichts von ihrem Gespräch hören. Leise gehe ich zur Küchentür, die nur angelehnt ist.

„... und den Rest Suppe hat er in den Ausguss geschüttet und den Topf in den Schrank gestellt! Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll ...“

Von wem spricht meine Frau da? Wer sollte in unserer Küche gewesen sein?

Kopfschüttelnd gehe ich ins Wohnzimmer. Vielleicht war jemand da, als ich im Bad war. Gleich fängt der Film an.

Als Hilde ins Wohnzimmer kommt, macht sie ein finsteres Gesicht. Ich tue als merke ich es nicht.